Der deutsche Bundesgerichtshof hat am 27. Juli 2020 zwei Beschlüsse zum «Recht auf Vergessenwerden» gefällt. Er weicht darin von seiner bisherigen Rechtsprechung ab und legt dem EuGH Fragen zum Recht auf Vergessenwerden vor.
Gestützt auf Art. 17 DSGVO können Betroffene unter bestimmten Voraussetzungen verlangen, dass Ergebnisse in Suchmaschinen ausgelistet werden, um die Weiterverbreitung verlinkter Inhalte zu verhindern. Während der Betroffene ein Interesse an der Auslistung hat, haben die übrigen Internetnutzer in der Regel ein Interesse an vollständiger Information. Auch der Suchmaschinenbetreiber hat aufgrund seines Geschäftsmodells, die Inhalte des Internets abzubilden, kein Interesse an einer Auslistung. Ein solcher Anspruch erfordert deshalb eine Abwägung der Grundrechte und Interessen des Betroffenen (insb. dessen Recht auf Privatsphäre und auf Schutz seiner personenbezogener Daten nach Art. 7,8 EU-Grundrechte-Charta) mit den Interessen des Suchmaschinenbetreibers, der übrigen Nutzer, der Öffentlichkeit und den Anbietern der verlinkten Inhalte. Rechtlich sind dies vor allem die Meinungsfreiheit (Art. 11 EU-Grundrechte-Charta) und unternehmerische Freiheit (Art. 16 EU-Grundrechte-Charta).
Suchmaschinenbetreiber muss nicht erst bei offensichtlichen Rechtsverletzungen tätig werden
Der BGH hat in seinem Beschluss VI ZR 405/18 nun entschieden, dass der Suchmaschinenbetreiber nicht erst dann tätig werden muss, wenn er von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung Kenntnis erlangt. Damit kehrt der BGH seiner bisherigen Rechtsprechung (Urteil vom 27. Februar 2018, VI ZR 489/16 N 36, 52) den Rücken zu. Aus der an Google gestellten Anforderung, gleich tätig zu werden, ergibt sich aber nicht automatisch ein Auslistungsanspruch. Im konkreten Fall hat der BGH einen Anspruch auf Auslistung abgelehnt. Der Kläger war Geschäftsführer eines Regionalverbandes einer Wohlfahrtsorganisation. Im Jahr 2011 wies dieser Regionalverband ein Defizit von knapp 1 Million Euro auf, kurz zuvor meldete sich der Kläger krank. Die Presseberichterstattung hierüber erschien als Ergebnis bei einer «Google»-Suche nach dem Namen des Klägers.
Vorlage an den EuGH
Im weiteren Verfahren VI ZR 476/18 verlangten die Kläger, von denen Fotos auf einer Webseite in einem Beitrag zu sehen waren, in dem ihr Arbeitgeber kritisch beleuchtet wurde, ebenfalls Auslistung. Beim «Googeln» ihres Namens erschienen einerseits ihre Namen als Teil der Beiträge in der Ergebnisliste, andererseits ihre Fotos als Vorschaubilder (thumbnails). Über das Geschäftsmodell der Betreiberin der Webseite, auf der sich die kritische Darstellung befand, gab es ebenfalls Berichte, wonach diese durch die Veröffentlichung negativer Berichte die portraitierten Unternehmen erpresse. Google setzte dem Auslistungsbegehren entgegen, es könne nicht prüfen, ob die Darstellung der Kläger tatsächlich auf unwahren Tatsachen beruhe.
Der BGH setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH nun zwei Fragen zur Entscheidung vor:
- Muss der Betroffene in zumutbarer Weise – z.B. durch eine einstweilige Verfügung – erst gegen den Webseitenbetreiber der verlinkten Inhalte vorgehen, wenn die dort behaupteten Tatsachen laut Betroffenem unwahr sind, um die umstrittene Frage der Unwahrheit vorab zu klären?
- Ist der Kontext der Webseite massgeblich zu berücksichtigen, auch wenn die Webseite bei Anzeige des Vorschaubildes durch die Suchmaschine zwar verlinkt, aber nicht konkret benannt und der sich hieraus ergebende Kontext vom Internet-Suchdienst nicht mit angezeigt wird?
(Noch) wenig Klarheit
Im Ergebnis verfolgt der BGH mit seinen Vorlagefragen das Anliegen, den Abwägungsprozess beim Recht auf Vergessenwerden durch eindeutige Kriterien nachvollziehbarer zu gestalten. Für die Suchmaschinenbetreiber geht durch die Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung aber ein Stück Rechtsklarheit verloren. Diese wissen nun zwar, dass sie nicht erst bei offensichtlichen Rechtsverletzungen tätig werden müssen. Klare Leitlinien hat der BGH jedoch nicht aufgestellt.