Interpellation Glättli (21.3580): Regulierung der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum
Eingereichter Text
Die EU-Kommission hat am 21. April 2021 Vorschläge für die Regulierung der künstlichen Intelligenz präsentiert. Danach soll die biometrische Identifikation aus der Ferne im öffentlichen Raum in Echtzeit auch im Hinblick auf die Strafverfolgung verboten werden, die Nutzung der Gesichtserkennung unter gewissen Umständen jedoch erlaubt bleiben. In der Schweiz tritt am 1. Januar 2022 das revidierte Datenschutzgesetz in Kraft. Dieses qualifiziert “biometrische Daten, die eine natürliche Person eindeutig identifizieren” neu als “besonders schützenswert”.
1. Ist der Bundesrat der Ansicht, dass Gesichtserkennungssysteme in jedem Fall biometrische Daten generieren, die unter Artikel 5 litera c Ziffer 4 revDSG fallen und damit als “besonders schützenswert” zu gelten haben? Stellt die Gesichterkennung damit in jedem Fall einen schweren Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäss Artikel 13 Absatz 2 der Bundesverfassung dar?
2. Inwieweit stellt das revidierte Datenschutzgesetz nach Ansicht des Bundesrats einen hinreichenden Schutz der Privatsphäre sicher, wenn es um die Einführung von Systemen zur Gesichtserkennung namentlich auch durch kantonale Polizeiorgane und private Dritte geht? Wie gross ist nach Ansicht des Bundesrats der Spielraum der Kantone, wenn sie durch spezialgesetzliche Erlasse LB. die Nutzung von Gesichtserkennungssystemen durch die Kantonspolizei legalisieren oder Pilotprojekte durchführen wollen?
3. Sieht der Bundesrat im Lichte der Entwicklungen in der EU ebenfalls Handlungsbedarf dahingehend, die Verwendung von Gesichtserkennungssystemen auf Bundesebene explizit zu regulieren? Steht dabei auch ein grundsätzliches Verbot der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum zur Diskussion oder zumindest ein Moratorium, bis eine öffentliche/politische Debatte über die Thematik stattgefunden hat?
4. Wie präsentiert sich die Rechtslage betr. Gesichtserkennung in den Kantonen? Gibt es insbesondere Kantone, die an die Verwendung von Systemen zur Gesichtserkennung strengere Anforderungen stellen als sie aus dem revidierten Datenschutzgesetz abzuleiten sind?
Stellungnahme des Bundesrats vom 11.8.21
Im neuen Bundesgesetz vom 25. September 2020 über den Datenschutz (BBl 2020 7639), das im Jahr 2022 in Kraft treten soll, werden die biometrischen Daten, “die eine natürliche Person eindeutig identifizieren” (Art. 5 Bst. c Ziff. 4), als besonders schützenswerte Personendaten qualifiziert. Dies setzt das Protokoll (SEV Nr. 223) zur Änderung des Übereinkommens zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten (Konvention 108+) um, welches die Bearbeitung solcher Daten nur unter Gewährung angemessener Garantien erlaubt. Ausserdem werden auch die Leitlinien des Beratenden Ausschusses dieses Übereinkommens zur Gesichtserkennung vom 28. Januar 2021 berücksichtigt. Unter “biometrischen Daten” sind beispielsweise digitale Fingerabdrücke, Gesichtsbilder, Bilder der Iris oder Aufnahmen der Stimme zu verstehen. Diese Daten müssen zwingend auf einem spezifischen technischen Verfahren beruhen, das die eindeutige Identifizierung oder Authentifizierung einer natürlichen Person erlaubt. Eine gewöhnliche Fotografie erfüllt diese Voraussetzungen nicht (BBl 2017 7020).
1. Wenn das Gesichtserkennungssystem eine eindeutige Identifizierung der Person ermöglicht, handelt es sich um eine Bearbeitung besonders schützenswerter Daten im Sinne von Artikel 5 Buchstabe c Ziffer 4 nDSG. Da für die Bearbeitung solcher Daten gemäss Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe a nDSG eine Grundlage in einem Gesetz im formellen Sinn erforderlich ist, hat der Bundesgesetzgeber darin einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Artikel 13 Absatz 2 BV gesehen.
2. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass das neue DSG einen ausreichenden Schutz für die Bearbeitung von Daten mittels Gesichtserkennung durch Bundesbehörden und Private gewährleistet. Das DSG gilt jedoch nicht für die Datenbearbeitung durch kantonale Organe. Die kantonalen Behörden haben einen gewissen Spielraum beim Einsatz der Gesichtserkennung, müssen aber die Artikel 13 und 36 BV und in Zukunft auch die Anforderungen der Konvention 108+ einhalten, welche die Schweiz bald ratifizieren wird. Im Entscheid BGE 146 I 11 stellte das Bundesgericht fest, dass die Erfassung von Identifikationsdaten durch die kantonalen Behörden anhand von Kontrollschildern im Rahmen eines Verkehrsüberwachungssystems und die Verknüpfung dieser Daten mit anderen Datenbanken innerhalb weniger Sekunden einen Eingriff in die Grundrechte nach Artikel 13 Absatz 2 BV darstellt. Das Bundesgericht befand, dass im fraglichen Fall die gesetzliche Grundlage nicht ausreichend war. Die vom Bundesgericht aufgestellten Anforderungen würden erst recht gelten, wenn die kantonalen Behörden auf ein Überwachungs- und Identifikationssystem mit Gesichtserkennung zurückgreifen würden.
3. / 4. Wie sich aus den vorstehenden Überlegungen ergibt, dürfen die Behörden des Bundes und der Kantone die Gesichtserkennung zur Identifizierung im öffentlichen Raum nur dann einsetzen, wenn eine ausreichende Rechtsgrundlage dafür besteht. Ausserdem muss der Eingriff in die Grundrechte durch ein hinreichendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sein, verhältnismässig sein und darf nicht den Kerngehalt der Grundrechte berühren (Art. 36 BV). Ein absolutes Verbot oder Moratorium auf Bundesebene steht nicht auf der Tagesordnung, weitergehende kantonale Regelungen sind dem Bundesrat nicht bekannt.