Das Zürcher Obergericht hat im Februar 2018 eine Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl geschützt (Beschluss UE170371 vom 6.2.2018, Swisslex). Es ging um drei unverlangte E‑Mails einer peruanischen Anwaltskanzlei, die den Beschwerdeführer und seine Bürokollegin erreichten. Den Adressaten, einen namentlich nicht genannten (aber unschwer zu identifizierenden) im Immaterialgüterrecht tätigen Zürcher Anwaltskollegen, versetzte dies dermassen in Rage, dass er mit “Stop harassing us immediately with your unsolicited bullshit spamming you fucking crooks!!!” antwortete (was laut Obergericht übrigens “eines Zürcher Rechtsanwalts nicht würdig” ist) und in der Folge eine achtseitige Eingabe an die Staatsanwaltschaft und eine zwanzigseitige Beschwerdeschrift ans Obergericht verfasste.
Die Bestätigung der Nichtanhandnahme wird man dem Obergericht vor diesem Hintergrund kaum übelnehmen wollen (und das Bundesgericht hat eine dagegen erhobene Beschwerde im Urteil 6B_468/2018 abgewiesen). Die rechtliche Begründung ist aber bemerkenswert:
Zunächst wollte das OGer offenlassen, ob hier überhaupt “Massenwerbung” i.S.v. Art. 3 Abs. 1 lit. o UWG vorlag – die Staatsanwaltschaft hatte das verneint, weil nur zwei Empfänger die wenigen inkriminierten E‑Mails erhielten. Der Versand erfolgte aber offenbar automatisiert, was wohl genügen müsste (vgl. Botschaft FMG 2003, BBl 2003 7991: “Erst die Automatisierung ermöglicht den Massenversand von Werbung. Darum umfasst der Begriff der Massenwerbung alle Arten der automatisierten Werbung (automatisierte Anrufe, Fax, SMS, E‑Mail usw.).”).
Das Obergericht sah den Tatbestand bereits aus einem anderen Grund als nicht erfüllt an, wobei es im Ergebnis aber doch den Begriff der Massenwerbung auslegte, wie sich zeigen wird. Das Gericht ging von der Generalklausel in Art. 2 UWG aus, was konzeptionell richtig ist, und schränkte gestützt darauf den Anwendungsbereich des Spezialtatbestands von Art. 3 Abs. 1 lit. o UWG ein:
Die Spezialtatbestände von Art. 3 – 8 UWG […] sind nicht blosses “Induktionsmaterial” im Rahmen der Generalklausel, noch führt die Existenz einer Spezialnorm notwendigerweise zu einer Beschränkung der Reichweite einer lauterkeitsrechtlichen Prüfung. Bei der Anwendung der Spezialtatbestände, die exemplifikativ unlautere Verhaltensweisen darstellen, ist nach dem Sinn und Zweck einer solchen Sonderregelung zu fragen. […] Nicht jedes im Gesetz genannte Verhalten untersteht somit auch tatsächlich dem UWG. Es muss eine täuschende oder in anderer Weise gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossende Wettbewerbshandlung vorliegen. […] Massgebend ist […] der Gesamteindruck, den ein Verhalten beim Publikum zurücklässt. Dem Abnehmer ist dabei im Allgemeinen durchaus ein gewisses Urteilsvermögen, eine gewisse Unterscheidungskraft sowie eine gewisse Resistenz gegen Werbeaussagen zuzumuten […].
Im Anschluss an diese Grundlegung beurteilte das Obergericht die inkriminierten E‑Mails als nicht tatbestandsmässig, weil sie die Unlauterkeitsschwelle von Art. 2 UWG nicht erreichten:
Offensichtlich richtete der Beschwerdegegner 1 bzw. das von ihm geführte Anwaltsbüro seine E‑Mails gezielt an Rechtsanwaltsbüros, deren Schwerpunkttätigkeit im beidseits gepflegten Rechtsgebiet des Immaterialgüterrechts liegt. Es mag zutreffen, dass der Beschwerdegegner 1 mit dem Versand der E‑Mails erhoffte, dass sein Anwaltsbüro in einem internationalen Immaterialgüterrechtsfall mit schweizerischem und peruanischem Bezug einmal vom Beschwerdeführer als Korrespondenzanwalt oder peruanischer Vertreter eines Klienten Berücksichtigung findet oder vorgeschlagen wird. Mit den sachlich gehaltenen Hinweisen auf die Gerichtsferien in Peru […], auf den Eintritt von zwei Rechtsanwälten in das Anwaltsbüro […] und auf das Vorgehen beim Eintrag eines Warenzeichens oder eines Patents in ein elektronisches Register in Peru handelte der Beschwerdegegner 1 jedoch weder täuschend noch in anderer Weise gegen Treu und Glauben verstossend im Sinne der Generalklausel von Art. 2 UWG und auch nicht in besonderer Weise aufdringlich.
Zudem:
Der Beschwerdeführer mit seiner Berufserfahrung als auf Immaterialgüterrecht spezialisierter Anwalt war ohne weiteres in der Lage, den Stellenwert dieser Mails für sich und seine Arbeit einzuschätzen und auch darauf zweckmässig zu reagieren. Die drei E‑Mails enthalten je einen Hinweis auf die Möglichkeit, die Zusendungen des Beschwerdegegners 1 abzubestellen […].
Und weiter:
Die drei E‑Mails verursachten für sich allein weder Kostenfolgen noch nennenswerte zeitliche und psychische Belastungen seitens des Beschwerdeführers. […]
Im Ergebnis leitet das Obergericht aus Art. 2 UWG also eine Bagatellschwelle ab: Was nicht spürbare, unerwünschte Folgen zeitigt, ist nicht unlauter. Das ist insofern richtig, als das UWG nicht spürbare Beeinträchtigungen des Wettbewerbs nicht erfasst. Man fragt sich aber, ob das Obergericht diesen Punkt nicht beim Tatbestand der Massenhaftigkeit hätte prüfen müssen. Dann hätte sich das Obergericht die Frage beantworten müssen, ob die Automatisierung des Versands die Bagatellschwelle nach dem Willen des Gesetzgebers nicht grundsätzlich überschreitet, im Sinne eines abstrakten Gefährdungsdelikts. Denn mit dem gewählten Vorgehen hat das Obergericht das Element der Massenhaftigkeit zwar vermieden, im Ergebnis aber doch dadurch beantwortet, dass es offenbar eine grössere Anzahl von E‑Mails oder von Empfängern verlangt (was auch einer Lehrmeinung zum Begriff der Massenhaftigkeit entspricht).
Art. 16 e‑Privacy-Verordnung (Entwurf)
Interessant ist ein Blick auf die entsprechende Regelung nach der e‑Privacy-Verordnung (die einen sehr weiten territorialen Anwendungsbereich haben wird). Der einschlägige Art. 16 setzt keine Massenhaftigkeit voraus und lautet im Formulierungsvorschlag vom 4. Mai 2018 wie folgt:
Article 16 – Unsolicited and direct marketing communications
1. Natural or legal persons shall be prohibited from using electronic communications services for the purposes of sending direct marketing communications to end-users who are natural persons unless they have given their consent.
2. Notwithstanding paragraph 1, where a natural or legal person obtains contact details for electronic message from end-users who are natural persons, in the context of the sale of a product or a service, in accordance with Regulation (EU) 2016/679, that natural or legal person may use these contact details for direct marketing of its own similar products or services only if such end-users are clearly and distinctly given the opportunity to object, free of charge and in an easy manner, to such use. The right to object shall be given at the time of collection of such end-users’ contact details and, if that end-user has not initially refused that use, each time when a natural or legal person sends a message to that end-user for the purpose of direct marketing.